Der Raum zwischen uns
von Mirela BaciakMirela Baciak über öffentliche Räume
Ich befinde mich inmitten von lächelnden Gesichtern, Werbeanzeigen und gesponserten Events. Ich bin mit meinen 1641 Mikrofreunden verbunden, wir liken das Video einer Katze, die von einem Stuhl fällt, wir teilen aktuelle Artikel des Guardian, wir tauschen Meinungen aus, wir gehen zu einer Vernissage, uns wird ein Secret Escape angeboten, wir sind Not Surprised. Das Internet ist ein bequemer Ort, meine Meinung zu banalen als auch zu wichtigen Angelegenheiten kundzutun, denn im Gegensatz zu Interaktionen in realer Zeit und im realen Raum weiß ich, dass meine Stimme nicht zittern wird. In der Öffentlichkeit zu sprechen, ist nichts, was ich besonders mag; es erscheint mir unpassend, so als sei der öffentliche Raum nicht für meine Stimme gemacht oder meine Stimme nicht für den öffentlichen Raum. Was es noch komplizierter macht, ist die Tatsache, dass ich mit Sprache im Allgemeinen kämpfe; mit ihrer Rolle bei der Einteilung in Kategorien, damit, wie Substantive fordern, dass festumgrenzte Einheiten Vorrang vor Beziehungen haben, wie bestimmte Wörter Denken und Fühlen beeinflussen, wie brutal die Grammatik darin sein kann, die Beziehung zwischen dem Selbst und dem Anderen zu definieren. Wenn ich könnte, würde ich bestimmte Wörter begraben, zum Beispiel Migrationshintergrund; das ist einer dieser Begriffe, die über mehrere Generationen anhaften können und die Tatsache verschleiern, dass es möglich ist, sich überall, unabhängig von Herkunft und Muttersprache, Zuhause zu fühlen und es auch zu sein.
Konfrontiert mit meinen plattformbasierten Gewohnheiten (bei Google, Twitter, Facebook usw.) frage ich mich, wo ich öffentlicher bin: im sogenannten öffentlichen Raum, sei es ein Park, ein Platz, eine Straße, ein Museum etc. – oder in meinem eigenen Schlafzimmer vor meinem Computer, über den ich konstant kommuniziere? Ist der Raum, der als öffentlich bezeichnet wird, im Sinne von für alle zugänglich, wirklich öffentlich? War er das jemals? Was ist mit der Öffentlichkeit, einem Begriff, der sowohl den öffentlichen Raum als auch verschiedene Gruppen von Öffentlichkeiten umfasst und als demokratischer Versammlungsort dient, an dem einzelne Individuen sich treffen, um gesellschaftliche Themen zu diskutieren und das politische Handeln zu beeinflussen? Und nicht zuletzt, wie sprechen wir miteinander, wenn wir in der Öffentlichkeit sind?
Die Idee einer Öffentlichkeit, die von Bürgern als Rahmen für politisches Handeln erzeugt wird, wurde bekanntlich von Jürgen Habermas in seinem 1962 publizierten Buch Strukturwandel der Öffentlichkeit: Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft konzipiert. Seine Ideen wurden wegen zahlreicher blinder Flecken kritisiert. Habermas’ Begriff der Öffentlichkeit ging von der Annahme eines neutralen Grundkonsens aus, der ausschließlich auf einer patriarchalischen und bürgerlichen Gesellschaft basierte. Heute ist es irritierend, von Öffentlichkeit im Singular zu sprechen, so als gäbe es eine einzige nennenswerte Öffentlichkeit. Fakt ist, es gibt es viele Öffentlichkeiten, die nicht unbedingt einen Konsens finden. Als konzeptuelle Modelle von Öffentlichkeit damit begannen, diese Pluralität anzuerkennen, tauchte das Konzept der Gegenöffentlichkeit als kritischer Begriff auf und brachte das zum Ausdruck, was manche Öffentlichkeiten, wie beispielsweise Arbeiter*innen, Frauen, Schwarze und queere Gemeinschaften, als explizite politische Alternativen zur normativen Elite entwickeln.(1) In jüngeren feministischen Publikationen werden Gegenöffentlichkeiten in Bezug auf aktuelle politische und soziale Kämpfe weiter gedacht. Ewa Majewska führte ein Konzept der schwachen Öffentlichkeit ein – um Gegenöffentlichkeiten einzubeziehen, die in der Schwäche ihre wichtigste politische Handlungsweise entfalten. Schwacher Widerstand entfaltet sich über einen längeren Zeitraum in Handlungen des Ungehorsams, die den dominanten, männlichen Handlungsweisen auf unheroische Art widersprechen. (2)
Die feministische Theoretikerin Lauren Berlant spricht von intimen Öffentlichkeiten, die nebenpolitisch sind, das heißt, sich in der Nähe des politischen Bereichs befinden; sie bilden informelle Netzwerke der Teilnahme, die überlebenswichtig werden: „A public is intimate when it foregrounds affective and emotional attachments located in fantasies of the common, the everyday, and a sense of ordinariness, a space where the social world is rich with anonymity and local recognitions, and where challenging and banal conditions of life take place in proximity to the attention of power but also squarely in the radar of a recognition that can be provided by other humans.“ (3) Für Berlant ist eine intime Öffentlichkeit ein weltbildendes Projekt, welches das Leben organisiert, ohne sich in die herrschenden politischen Institutionen einzufädeln.
Parallel zu den oben genannten Unterscheidungen gibt es eine weitere Diskussion, die weitgehend das Sichtbarmachen von Gemeinsamkeiten einer Öffentlichkeit meint. Öffentlichkeit bezieht sich in dem Fall auf digitale Öffentlichkeiten – also auf Öffentlichkeiten, die auf digitalen Plattformen existieren und gemeinsame Interessen haben, sie sind Zielgruppen, die sich aus Personen zusammensetzen, die über digitale Medien erreichbar sind, die Empfänger*innen und potenzielle Kund*innen zugleich sind. Eine digitale Öffentlichkeit ist eine Öffentlichkeit, die bereit ist, zu reagieren, dies aber erst dann tut, wenn eine Meldung sie dazu herausfordert. Die Zugehörigkeit zu digitalen Öffentlichkeiten basiert auf der soziologischen Regel der Homophilie, die besagt, dass „schräge Vögel zusammenhalten“ oder „gleich und gleich sich gern gesellt“. Digitale Öffentlichkeiten werden durch Algorithmen gebildet, die Präferenzen identifizieren und den Einzelnen in eine digitale Nachbarschaft mit ähnlichen Menschen stellen. Der größte Fehler daran ist, dass das Andere für den Einzelnen unsichtbar bleibt; Filterblasen reduzieren die Sichtbarkeit von abweichenden Meinungen, Ansätzen und Lebensweisen. Wo verweben sich verschiedene Öffentlichkeiten dann noch miteinander? Wo, außer in der Liebe, ziehen sich Gegensätze an?
Es ist ernüchternd, dass das Internet, das ursprünglich als ein demokratischer Raum für Gleichrangige gedacht war, zu einem hierarchischen System wurde, in dem der Benutzer auf eine Entität reduziert wird, die Unternehmen Daten zur Verfügung stellt und ihnen so Macht verleiht. Es ist ein Raum der Dissonanz, in dem das Öffentliche privat und das Private öffentlich wird. Welche Dinge, die ich sehe, siehst du auch? Hast du Greta Thunberg auf der COP24-Klimakonferenz in Katowice sprechen sehen? Hast du gesehen, wie die aufständischen Gelbwesten auf den Straßen von Paris sangen und tanzten? Was ist mit den Protesten gegen Vučić in Belgrad? Hast du den Flammenkrieg zwischen Luke Turner und Daniel Keller während der Biennale in Athen gesehen? Hast du eine gemeinsame Erklärung gegen Diskriminierung in der Kunst mit dem Titel Es kotzt uns an / We are sick of it (4) gesehen? Haben wir den gleichen Algorithmus? Was zeigt dir dein Algorithmus?
Mir kommt es oft so vor, dass Menschen unterschiedliche Dinge sehen, und es ist schwierig, eine gemeinsame Sprache zu finden, die einen Ort des Zusammentreffens ermöglicht, wo solche Dissonanzen diskutiert werden können. Die Frage nach der Schnittmenge verschiedener Öffentlichkeiten, nach Gastlichkeit als Bereitschaft, offen zu sein für das, was anders ist, wird zur größten Herausforderung für einen demokratischen öffentlichen Raum. Gastlichkeit ist auch die Warte, aus der heraus ich Kunstinstitutionen betrachte. Die Kunst gilt allgemein als einer der gastlichsten Orte, sie bietet Raum für Konflikte und Auseinandersetzungen, aber sie wird auch beschuldigt, elitär, klassizistisch und rassistisch zu sein. Nur wenige meiner Freunde, die nicht Kunst studiert haben, gehen tatsächlich zu Kunstveranstaltungen. Es scheint, dass ich Teil einer bestimmten Öffentlichkeit bin, die sich zu bestimmten, wiederkehrenden Anlässen formiert. Es besteht ein Widerspruch zwischen dem Selbstverständnis der Kunst als integrativ, mit dem Wunsch verschiedene Öffentlichkeiten zu erreichen und zu beherbergen, und ihrem eigentlichen Antrieb durch eine Ökonomie der Reputation, in der die Regel gilt: Je mehr Aufmerksamkeit man bekommt, desto mehr Aufmerksamkeit steht einem zu. Allmählich wächst das Bewusstsein für die Notwendigkeit von Intersektionalität; die Zusammensetzung der Personen, die einen Platz am Tisch bekommen, von dem aus sie sprechen können, ändert sich langsam. Sehr langsam.
Ich stimme den fragilen Eigenschaften, die feministische Theoretikerinnen wie Berlant und Majewska hinsichtlich des Zusammenseins als Öffentlichkeit aufzeigen, grundsätzlich zu, obwohl ich es schwierig finde, Schwäche als Stärke zu kultivieren, wenn das Dominante und das Nicht-Dominante aufeinandertreffen. Die meisten öffentlichen Situationen beinhalten fest eingebaute Hierarchien und sind vom Habermas’schen Denken durchdrungen; es gibt nicht genügend sichere Räume, in denen das Nicht-Dominante sprechen kann. Wenn Konflikte auftreten, bewegen sie sich in der Regel schnell in den virtuellen Raum, wo sie sich in einem Moment der Empörung auflösen. Die Möglichkeit gegenseitiger Verletzlichkeit, aus der heraus etwas passieren könnte, das eine Änderung der Perspektive des Dominanteren bewirkt, wird vertan. Die Geisteshaltung speziell derer zu verändern, die in die Konstruktion von Macht verwickelt sind, ist ein Langzeitprojekt. Doch ist, allgemein gesprochen, das nicht die größte Hoffnung, die wir im Kampf gegen Diskriminierung haben? Eine diskriminierende Machtstruktur so zu adressieren, dass sie tatsächlich zuhört, sich besorgt zeigt, und diesen Moment wiederum zu nutzen, darüber zu sprechen, wie wir miteinander verbunden sind? Ist es möglich, eine Art des Sprechens zu finden, die über die Anspannung hinausgeht, wer das Recht hat, über wen auf welche Weise zu sprechen, und eine echte Form der Gastlichkeit ermöglicht? Eine Situation, die verschiedene Stimmen zulässt, auch die, die zittern?
Bei manchen somatischen Praktiken geht man davon aus, dass Zittern Spannungen löst, dass es eine Schwäche in eine Stärke verwandelt. Ich denke, die zitternde Stimme wird oft von einem Gefühl der Nicht-Zugehörigkeit begleitet. Wir können nicht überall hingehören, aber wir können lernen, den Raum zwischen uns zu genießen und ihn erzittern zu lassen. (5)
Ich möchte Franziska Kabisch, Denis Maksimov und Philipp Ehmann für Gespräche danken, die diesen Text inspiriert haben.
Fußnoten
(1) Theoretiker*innen, die sich mit Öffentlichkeiten und Gegenöffentlichkeiten bezogen auf die von Habermas skizzierte Theorie beschäftigt haben, sind Alexander Kluge und Oskar Negt in Öffentlichkeit und Erfahrung (1972), Nancy Fraser in Rethinking the Public Sphere: A Contribution to the Critique of Actually Existing Democracy (1990) und Michael Warner in Publics and Counterpublics (2002).
(2) Majewska, Ewa; Reed, Patricia: Weak Publics. Ewa Majewska in conversation with Patricia Reed. In: A City Curating Reader, Public Art Munich 2018, S. 223—232.
(3) Berlant, Lauren. The Female Complaint: The Unfinished Business of Sentimentality in American Culture, Duke University Press, Durham 2008. Eine Öffentlichkeit ist intim, wenn sie affektive und emotionale Bindungen in den Vorstellungen vom allgemein Üblichen, vom Alltäglichen sowie einen Sinn für das Gewöhnliche erzeugt, einen Raum, in dem das Soziale reich an Anonymität und lokalen Kenntnissen ist und in dem schwierige und schlichte Lebensumstände in der Nähe der Macht herrschen, aber auch direkt im Umfeld der Anerkennung, die von anderen Menschen erbracht werden kann.
(4) We Are Sick of It. (2018) Kollektives Statement von migrantischen/Schwarzen/indigenen/lesbischen/queeren/trans Künstler*innen of Color. Available online: https://wearesickofit.wordpress.com.
(5) Lütticken, Sven. (2018). The Public Sphere and Artifactual Possibility. In: A City Curating Reader, Public Art Munich 2018, pp. 36—62; Shah, Nishant. (2018). A.I. for survival or How feminist, person-of-colour critique will save the world. (Lecture). Available online: https://vimeo.com/267164940.