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Der Kontrollverlust ist die notwendige Voraussetzung für den Schlaf

Ein Gespräch mit Alexandra Correll

von Anna-Lena Wenzel

Inwieweit beeinflussen die Arbeitsbedingungen unser Schlafverhalten? Schläft man besser in der post-industriellen Zeit oder rauben einem Digitalisierung und entgrenzte Arbeitsverhältnisse den Schlaf?

ALW: Du bist Fachärztin für Neurologie mit Schwerpunkt Schlafmedizin. Unter welchen Schlafstörungen können Patient*innen leiden?

AC: Ein großer Teil der Patient*innen hat eine Schlafstörung im Sinne einer Insomnie, sie leiden an zu wenig Schlaf, haben Einschlaf- oder Durchschlafstörungen oder Früherwachen. Dies basiert oft auf innerer Unruhe, dysfunktionaler Kognition oder Hyperarousal – eine Art ‚Überwachheit‘.

Dann gibt es Patient*innen, die schlafen zu viel, weil sie zum Beispiel tagsüber unkontrolliert einschlafen oder insgesamt mehr schlafen. Zudem gibt es Menschen, die im Schlaf komische Sachen machen, die schlafwandeln, um sich schlagen oder Träume ausagieren. Da gibt es Unterformen, die man im Schlaflabor diagnostizieren kann.

ALW: Das heißt, Patient*innen kommen ins Schlaflabor und bleiben zum Teil über Nacht?

AC: In der Regel wird zunächst ein Gespräch geführt, um zu entscheiden, ob es notwendig ist ins Schlaflabor zu gehen. Falls dies der Fall ist, werden die Patient*innen dann zur Untersuchung komplett verkabelt, gefilmt und mit Mikro aufgenommen. Es wird ein EEG gemacht, die Augenbewegungen und der Kinnmuskelturnus, die Beinbewegungen und die Atmung werden gemessen. Aufgrund dieser Polysomnografie wird der Schlaf analysiert und man bespricht dann gegebenenfalls entsprechende Therapiemaßnahmen.

ALW: Kann man den Menschen mit Insomnie helfen?

AC: Ja, das kann man. Es gibt medikamentöse Behandlungen, der Goldstandard ist jedoch die kognitive Verhaltenstherapie (CBTI).

ALW: Die Grundidee für die nächste Auflage des Ausstellungsformats Ruhr Ding von Urbane Künste Ruhr zum Thema Schlaf lautet, dass sich im Zuge der Industrialisierung der Schlafrhythmus an die spezifischen Arbeitsbedingungen hier im Ruhrgebiet angepasst hat. Nun ist die Frage, wie sich die post-industrielle Zeit auf das Schlafverhalten auswirkt. Würdest du zustimmen, dass die neoliberalen Ökonomien und die zunehmende Digitalisierung den Schlaf beeinflussen?

AC: Das ist natürlich nicht pauschal zu beantworten. Ich würde sagen, dass die neoliberaleren und freieren Arbeitswelten positive wie negative Aspekte haben. Inwiefern man früher mehr geschlafen hat und die Insomnie ein Teil der westlichen aktuellen Welt ist, ist nicht entschieden, da streiten sich die Gelehrten.

Ich bin auch vorsichtig zu sagen, dass früher alles besser war. Während Jonathan Crary in seinem Buch 24/7 von 2013 noch argumentiert, dass der Spätkapitalismus den Schlaf überwinden will, um letztendlich durch permanente Wachheit und Verfügbarkeit das produktions- und leistungsoptimierende Moment stark zu machen, ist heutzutage angekommen und akzeptiert, dass der Schlaf selbst ein produktionsfördernder, produktiver und leistungssteigernder Zustand sein kann. Der Schlaf als letzte widerständige Bastion gegen die Verwertung wird quasi zunehmend einverleibt. Er ist ein Lifestyle-Produkt geworden.

ALW: Beatriz Colomina argumentiert in ihrem von Urbane Künste Ruhr veröffentlichten Text The 24/7 Bed in eine ähnliche Richtung wie Crary wenn sie davon spricht, dass der Spätkapitalismus das Ende des Schlafens bedeutet. Jede Minute unseres Lebens sei der Produktion und dem Konsum vorbehalten, was sie mit der 24/7-Nutzung des Bettes belegt.

AC: Die These, das Bett sei zum Inbegriff des neoliberalen Arbeitswesens geworden, in dem sich die Arbeits- und Freizeitaktivitäten auf negative Weise auflösen, mag stimmen, doch die Frage ist doch, ob dies ein Grund für Schlafstörungen ist. Eine wichtige und effektive Methode, um chronische Insomnien zu behandeln, ist die Bettzeitrestriktion: Man sollte nur die Zeit, die man effektiv schläft, im Bett verbringen, bis sich wieder eine konsolidierte Schlafphase eingestellt hat. Um Zäsuren zu setzen, kann es durchaus helfen Arbeit und Schlaf räumlich klar voneinander zu trennen.

ALW: Das leuchtet ein und doch erfordert diese Trennung ganz schön viel Disziplin, weil die Smartphones ja alles gleichzeitig sind: Unterhaltungsmedium, Arbeits- und Kommunikationsgerät.

AC: Absolut. Hinzukommt, dass die App-Industrie die Lösung immer schon mitliefert – in Form von Entspannungsmusik, Meditationen und schlaffördernden Apps.

ALW: Was ich am Schlaf interessant finde, ist, dass er dieses unkontrollierte Moment hat.

AC: Ja, der Kontrollverlust ist die notwendige Voraussetzung für den Schlaf. Es gibt dieses berühmte Sprichwort, dass der Schlaf wie eine Taube sei: Wenn du versuchst nach ihr zu greifen, fliegt sie weg, aber wenn du die Hand ausstreckst und nicht hinschaust, dann kommt sie. Man kann Schlaf noch so sehr kontrollieren wollen, am Ende ist er doch stärker. Alle Versuche, den Schlaf zu überwinden – sei es durch Medikamente, Drogen oder riesige Sonnenreflektoren, die das Dunkel der Nacht abwehren sollen, haben nicht funktioniert.

ALW: Das rückt für mich den Schlaf in die Nähe von Kunst, da auch Kunst oft etwas mit dem Unverfügbaren zu tun hat, mit dem Einlassen auf ein Ungewisses.

AC: Es gibt tatsächlich einige Bücher, die Schlaf als Form des Widerstands denken, wie George Perec' Ein Mann der schläft, in dem es um Schlaf als Verweigerung und Entzug von der Welt geht, oder Ottessa Moshfeghs Buch Mein Jahr der Ruhe und Entspannung. Während sich bei Perec der Protagonist aus Verzweiflung in den Schlaf flüchtet, ist der Schlaf bei Moshfegh ein bewusst ‚designter‘ Zustand.

Für mich ist Schlaf eher ein poetischer Zustand. Zwar ist er eine physiologische Notwendigkeit, aber im Gegensatz zum Essen ist er mit einem anderen Bewusstseinszustand verbunden, auf eine gewisse Art ist er irreal. Ich mag diesen Moment, in dem man in den Schlaf reinfällt: Es ist ein Zustand, in dem das fragmenthafte Träumen anfängt und sich gleichzeitig die Wirklichkeit einwebt. Ganz abgesehen davon ist Schlaf ein unglaublich komplexer Vorgang, in dem extrem viele Dinge passieren, ohne dass man bis heute im Detail genau weiß, wie.

ALW: Ich würde gerne noch mal auf die heutigen Arbeitsverhältnisse zu sprechen kommen. In der Veranstaltung Schlafen kann ich, wenn ich tot bin, einem Teil des mobilen Diskursformates Wandersalon von Urbane Künste Ruhr, hat Dietmar Osses, Leiter des LWL-Museums, auf die vielen Schichtarbeiter*innen hingewiesen, die in den neu entstandenen Logistikunternehmen von Amazon, DHL oder Ikea arbeiten, um darauf aufmerksam zu machen, dass wir zwar in post-industriellen Zeiten leben, aber die Schichtarbeit noch lange nicht abgeschafft ist. Auch das Argument, dass sich die Arbeit zusehends ins Homeoffice verlagert, gilt nur für spezifische Berufsgruppen – Altenpfleger*innen, Verkäufer*innen und Fabrikarbeiter*innen fahren weiterhin täglich zu ihrem Arbeitsplatz. Das trifft auch auf meine Cousine zu, die als Krankenschwester in Witten arbeitet. Sie berichtet, dass viele ihrer Kolleg*innen unter Burn-Out leiden. Gibt es da einen Zusammenhang?

AC: Dass Schichtarbeit für die Gesundheit alles andere als zuträglich ist, wurde schon mehrfach bewiesen. Dennoch ist es schwierig, das eins zu eins zu übersetzen. Aber es ist definitiv eine Belastung. Und jede Belastung kann die Resilienz für einen Burn-Out reduzieren. Es gibt das Schichtarbeitersyndrom, das sich in gestörtem Schlaf ausdrückt. Dass Schlaf für die Stabilisierung sowohl des psychischen als auch des physiologischen Lebens sehr wichtig ist, ist in den letzten Jahren wiederholt nachgewiesen worden und das kann wahrscheinlich jede*r aus eigener Erfahrung bestätigen.

ALW: Mich würde interessieren, ob es noch weitere Faktoren gibt, die das Schlafverhalten beeinflussen, wie zum Beispiel die Urbanisierung oder veränderte Wohnverhältnisse. Die Leute leben nicht mehr so beengt, haben tendenziell mehr Platz.

AC: Ja, Ruhe und Platz sind definitiv wichtig, aber Dunkelheit ist auch entscheidend. Urbane Verhältnisse sind oft mit Licht in der Nacht verbunden. Mittlerweile weiß man, dass Licht durch die Augenlider hindurchdringt. Inwieweit sich die Wohnverhältnisse auswirken, ist schwer zu beantworten, ich würde eher sagen, dass es die existentiellen Sorgen sind, die den Menschen im wahrsten Sinne des Wortes den Schlaf rauben.

Was auch einen starken Input hat, ist Pendeln. Lange tägliche Arbeitswege bedeuten Zeit, die beim Schlafen fehlt. Früher gab es Bergbausiedlungen, die direkt neben den Zechen entstanden sind. Diese urbane Struktur hat sich aufgelöst. Ein interessantes Experiment bezüglich der Interdependenzen von Schlaf und Arbeitsbedingungen waren die Lockdowns und die Corona-Maßnahmen. Durch die Implementierung von Homeoffice fielen für viele die Pendler-Strecken weg, so dass sie länger schlafen konnten. Auf der anderen Seite war die Situation für einige eine existentielle Belastung, sei es finanziell, gesundheitlich oder psychisch, so dass sich beobachten ließ, dass die Schlafqualität gesunken ist. Eine Studie hat gezeigt, dass Leute, die vorher Schlafstörungen hatten, zum Teil besser geschlafen haben. Ein Grund könnte sein, dass die Ängste vor dem Nicht-Schlafen-Können, die eine massive Rolle bei der Chronifizierung von Schlafstörungen spielen, zurückgegangen sind.

ALW: Wenn wir versuchen, das Schlafverhalten mit aktuellen gesellschaftspolitischen Entwicklungen kurzzuschließen, finde ich es naheliegend, Schlaf als Beispiel dafür zu nehmen, dass Organismen auf Kreisbewegungen beruhen und sich Phasen der Aktivität durch Phasen des Rückzugs ablösen. Schlaf könnte als Beleg dafür dienen, dass die Zeiten des exponentiellen Wachstums vorbei sind und durch eine Kreislaufwirtschaft abgelöst werden müssen.

AC: Ja, das ist eine schöne Übertragung. Tatsächlich gibt es in vielen organischen Systemen Zyklen und Kreisbewegungen. Sie zeigen, dass es immer wieder Phasen der Ruhe braucht, regenerative Momente, in denen sich die Dinge unterschwellig sortieren.

ALW: In Bezug auf das Ruhrgebiet könnte man sagen, dass es sich nach der industriellen Wachstumsphase nun im Winterschlaf befindet.

AC: Ja, die Zechen sind in eine Art Dornröschenschlaf gelegt worden, wobei das bedeuten würde, dass sie irgendwann wieder erweckt würden. Ich würde eher davon sprechen, dass sie umfunktioniert werden – zu Freizeitparks, Sportstätten oder Museen, an denen eine andere Form der Aktivierung als noch zu Zeiten der Industrialisierung stattfindet. Eine, die dem Schlaf vielleicht zuträglicher ist.

Alexandra Correll ist Fachärztin für Neurologie mit Schwerpunkt Schlaf. Sie hat außerdem ein Diplom in Architektur sowie ein postgraduate Diplom in Schlafmedizin der Oxford Universität. In ihrer Arbeit untersucht sie unter anderem den Einfluss der Umwelt auf den Schlaf.

Anna-Lena Wenzel ist Autorin, Künstlerin und Publizistin und betreibt das online Stadtmagazin 99% Urban. Sie schreibt für Magazine und Künstler*innen, kuratiert und moderiert. Zudem arbeitet sie häufig in kollektiven Zusammenhängen und realisierte zuletzt die Ausstellung Klassenfragen – Kunst und ihre Produktionsbedingungen.

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