1. Vorher, ich will es ja wissen
Sehr viel Geographie in Kamen, zu viel für meine Vorstellung vom Ruhrgebiet. Vom Flüsschen Seseke zum Kurler Busch über das Heerener Holz unweit vom Haarstrang bis zum Kamener Kreuz. Gamer in Kamen, ja sicher. Groyper in Kamen? Keine Ahnung, werde es nicht herausfinden in der kurzen Zeit. Erwartung an Kamen – viel Busch, viel Wind, viel Herbst und Autobahn. Eine Kirche. Häuschen. Google Maps zeigt allerdings viele Cafés, das kann ich nicht glauben. Viermal so groß wie Bebra, das kann ich mir auch nicht vorstellen.
Ich lese: „Die Hauptverbindungsstrecke zwischen der Kamener Innenstadt und Methler ist die Westicker Straße, die sich nach einem großzügigen Ausbau in den 1970er Jahren zu einem Unfallschwerpunkt entwickelt hatte. Durch den Bau mehrerer Kreisverkehre wurde dieser Entwicklung begegnet.“ Der Unfallschwerpunkt lässt also grüßen, Kreisverkehre werden mich erwarten.
Es gibt ein Drachenflugfestival im Herbst. Getrennt von der Stadt durch Autobahntrassen.
Kommt man nach Kamen besser mit dem Auto? Das Wahrzeichen der Stadt ist schließlich ihr Autobahnkreuz.
90 Menschen leben nordöstlich des Kreuzes. So knapp 50.000 woanders. Eigentlich eine Mogelpackung: Heeren, Rottum, Derne, Heeren-Werve, Kamen-Süd, alles ein einziges Konglomerat. Kamen ist eine Shrinking City, bis 2050 nur noch 39.000. Eine alte SPD-Hochburg, die nun langsam nach Grün abgedriftet ist und jetzt auch AfD-Zuwachs zu verzeichnen hat. In der Kommunalwahl vom Wochenende wurde in Bergkamen per Los zwischen einem AfD-Kandidaten und einer SPD-Kandidatin entschieden. Eine andere Headline: „Darum dauert die Auszählung der Stimmen in Kamen so lang.“
Es ist die Stadt der Stauprognosen, ansonsten wie auch anderswo dort: Abibälle – Gesamtschule und Gymnasium, Stadtfeste, Volksfeste, Sparkassen Thriathlon – und irgendwo ein Schild mit „Ruhrpottfritten“.
Der Polizeifunk vermeldet, dass bei einem Einbruch Bargeld „und ein Haartrockner“ entwendet worden sei, sowie eine Cannabisfarm entdeckt und ein Zigarettenautomat gesprengt wurde. Eine Straße heißt „Am Geist“, da werde ich ankommen. Es ist tatsächlich eine Geistersstraße, werde ich feststellen.
2. Da sein
10.00: Die Rezeptionistin des Hotels im Süden kommt aus Bergkamen und beschwört täglich das Kamener Kreuz, das tatsächlich immer noch seinen Rang in den Verkehrsnachrichten verteidigt. Sie habe auf einer Urlaubsreise von hier nach Pforzheim 19 Baustellen gezählt. Das sei doch verrückt. Ja, ihre Gäste seien Leute, die hier in dem Industriegewerbe ringsum arbeiteten. Und die Spanier aus dem Frühstücksraum?, frage ich. Die würden zur Messe in Dortmund gehen, das sei zu teuer dort zu wohnen.
10.20: Die Tankstellenfrau aus Heeren-Werve kennt sich hier nicht aus. Sie kommt aus Kamen und das ist 5km entfernt. Ein niedriges Flugzeug erinnert mich daran, dass der Flughafen Dortmund nicht weit entfernt ist.
10.40: Die Apothekerin hält mich für eine Person aus Kamen. Das geht aber schnell hier.
Hinter mir Berichte über die Situation nach der Scheidung auf der Terrasse der Bäckerei Grobe, die beiden Frauenstimmen besprechen das, was man bekommt und was man bezahlt in verschiedenen beruflichen Situationen. Ansonsten Rentner, einer mit einem Cowboyhut, das hat mich interessiert. Wie kann man durch Kamen laufen als 85-jähriger mit Cowboyhut?
Es ist die merkwürdigste Form des Tourismus, die ich jemals machte. Denn natürlich sitze ich entrückt von jeglichem Alltag wie eine Touristin im Café und bestaune die Absonderlichkeiten der Provinz. Eine extrem angreifbare Position.
Ich lese: Wer die Meme Culture nicht versteht, und über den Attentäter von Charlie Kirk schreibt, der richte journalistisch mehr Schaden an als es was bringt, schreibt Rechtsextremismusexpertin Natascha Strobl. [1]
Die Frauen hinter mir sind aufgestanden, sie haben sich zum Abstand noch Komplimente über ihre Kleidung gemacht. Die ältere Frauenrunde drinnen spricht weiter. Sie sind zu viert, Eigentlich könnten sie Kartenspielen, wie meine Oma das gemacht hat. Ich werde Kartenspielen. Ganz sicher.
11.00: Bei Thalia ums Eck habe ich Kaleb Erdmanns „Die Ausweichschule“ über den Erfurter Amoklauf gekauft, sie hatten eine kleine Auswahl an Literatur da. Ich habe es gewählt, weil es so schön mündlich beginnt. Ein Gespräch im Fluss, das finde ich gut als Romanfang. Es wird dann sehr flüssig, vielleicht zu flüssig. „Gibt dem eine Chance“ sage ich mir auf der Terrasse der Bäckerei Grobe im 1. Stock.
Von dort aus der Überblick. Gerade wirkt die Szenerie so: Die Leute wachen auf nach ihrem Berufsleben und gehen dann als Rentner durch ihre Städte und wundern sich? Viele haben diese zweifelnden Mienen. Verstärkt wird der Eindruck durch die Tatsache, dass zahlreiche ältere Leute mit kleinen Elektromobilen sich bewegen.
12.26 – der gelbe Prosegurwagen kommt durch, um 12.30 fährt er wieder weiter.
Seit 12.00 vermehrt junge Menschen. Sie sprechen in ihr Handy, sie unterhalten sich, sie schauen nicht misstrauisch drein. Sie telefonieren auch viel mehr als die älteren. Überhaupt viel mehr Stimmen. Es ist erstaunlich, wie sich die Stadt plötzlich füllt. Das Giraffengraffiti in der namenlosen Straße vor mir bleibt aber nach wie vor überraschend.
Die Anzeige für die Busabfahrten am Marktplatz ist so gehängt, dass man sie am besten aus dem Backcafé sehen kann. Auf dem Einbahnstraßenschild klebt endlich ein Borussia-Dortmund-Aufkleber – darauf habe ich gewartet!
12.47: Der Mann, der die Zunge immer rausstreckt, kommt nochmal auf die ganz genau gleiche Weise vorbeigefahren, ich frage mich, ob das ein Glitch ist, eine Schleife.
13:08: Zuerst einzelne, jetzt ganze Gruppen an Schulkindern unterwegs. Die Stadt füllt sich schlagartig mit Stimmen.
14:20 Die Inhaberin des Asia Wok Laden und ich stellen fest, dass wir beide vor fünf Jahren aus Berlin weggezogen sind. Wir freuen uns, sind Artgenossen. Sie aus Pankow, ich aus Neukölln, sie habe aber eine Tante in Neukölln. Es sei hier in Kamen so wie in Pankow, grün und ruhiger. Ich befrage sie zur Geisterstraße „Am Geist“, denn da steht jede Menge leer. Coronaerbe, meint sie, nach Corona gab es einige Pleiten, darunter auch das große Hotel, das ihr gegenüber ist. Die ganze Straße ist sehr gespenstisch.
15:00 Ausflug nach Bergkamen und hinauf auf die Halde Großes Holz, um einmal von oben alles zu sehen: das ist das Ruhrgebiet von oben. Der Schock des großen ehemaligen Zechengeländes und der Industriekomplexe in Bergkamen weicht hier einem grünen Eindruck. „Das Ruhrgebiet ist von oben grün“ wird auch jemand später sagen. Mit mir Hundebesitzer, Radler, unten dann Jugendliche, die im Auto sitzen bleiben, auf dem Rückweg der Partyservice am Straßenrand. Die vielen Buslinien.
16.00: Der Marktplatz, das würde ich zurück in Kamen im Café erfahren, sei abends von Alkis besetzt, da gab es oft Schlägereien, man müsse alles reinräumen, rechtsrum ist die Drogenszene, aber jetzt sei das Ordnungsamt am Platz, und das hilft. Im Grunde wiederholt sie die immer wieder gehörte Erzählung einer shrinking city, wie Alles immer schlechter, die Läden machten alle schon um 16.00 zu und seien zum größten Teil abgewandert. Deichmann, Karstadt, Schlecker. Alles weg, die Boutiquen, die Kneipen, der Bäcker am Platz, alles weg, keine Leute finde man mehr, keine Arbeitskräfte, aber das sei überall so. Später werde ich sehr wohl Deichmann finden und auch sehen, dass einige Geschäfte noch offen haben.
Die Cafébetreiberin erzählt, sie habe früher das Krankenhauscafé gemacht, jetzt sei sie seit fünf Jahren hier, die fünf Jahre, die Zeit der Pandemie scheint alles verändert zu haben in dieser Stadt. Der Platz sei nicht schön, da sei nichts bunt, sie würde am liebsten alles betonieren und Schulklassen den Asphalt bunt bemalen lassen. Warum denn das? Die alten Leute stürzten hier bei dem Pflaster. Was sie schon für Stürze gesehen habe! Sie lebe von 80% Stammkunden, morgens war das Café übervoll. „Unna ist ganz anders.“
18.00 Verschränkter Herbst: Mal kalt, mal warm, die Luft ist durcheinander. Gleich gibt es die Afterworkparty organisiert von der „Familienbande“, die uns vielleicht Konkurrenz machen wird. Aber es wird alles ganz anders. Alle Stühle und Sitzgelegenheiten sind besetzt, als die Kolumnen der Kamenerin Esra Canpalat zu hören sind. Hinter ihr werden die wunderbaren Fotos von Fatih Kurçeren projiziert, Portraits der oft jugendlichen Bewohner*innen, Sites. Sie zeigen mir die involvierte Seite der Beobachtung, die meine touristischen Schnappschüsse blass aussehen lassen, denn natürlich habe ich gemacht, was Großstädterinnen immer machen, nämlich das Skurrile der Provinz zu fotografieren. Hinter mir sitzen die beiden Verantwortlichen aus der Stadtbibliothek. Irgendwer sagte den Satz. „Das Beste an Kamen ist, dass man mit der Bahn in nur zehn Minuten nach Dortmund kommt.“ Ich glaube dieser Aussage nicht.
3. Fortfahren
[1] https://www.moment.at/story/was-ist-ein-groyper/