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Stimmen aus dem Off Jeewi Lee

Stimmen aus dem Off: 33°31’40.0"N 7°48’15.8"W

von Jeewi Lee

„Locked down“ in Casablanca seit über 70 Tagen.

„Die Zeit ist nur der sich zum Objekt werdende innere Sinn, der Raum der ihm zum Objekt werdende äußere Sinn.“ (Friedrich Schelling)

Meine derzeitige Situation erinnert an die Arbeit von Beuys I like America and America likes Me: Eine absolute Isolation von der Umgebung des Ortes, an dem man sich eigentlich befindet. Man befindet sich zwar an einem fremden Ort, aber bisher erlebt sind bloß die vier weißen Wände, die einen umrahmen. Man fragt sich, ob dadurch die Ortschaft irrelevant wird, fast nicht existent. Es ist ein Zustand, überall und zugleich nirgendwo zu sein.

Nach einer einmonatigen Projektreise im Senegal war es mein Plan, über Casablanca wieder zurück nach Berlin zu fliegen. Aus einer Spontanität und Leichtigkeit heraus entschied ich mich dazu, auf dem Weg nach Hause ein paar Tage in der größten Stadt Marokkos zu verbringen um dort einen Freund in seiner Künstler-Residency zu besuchen. Aus den geplanten sechs wurden mittlerweile über 70 Tage. Ich sitze in dieser Stadt fest, ohne sie gesehen oder erfahren zu haben, mittendrin im COVID-19-Lockdown.

Marokko ist eines der Länder, die am schnellsten und radikalsten auf die Corona-Krise reagiert haben. Nicht nur alle Verkehrsmittel sind komplett eingestellt, sondern auch die Grenzen sind dicht. Von Anfang an herrschten Maskenpflicht und strengste Ausgangssperre. Die Ausgangssperre wird von der Polizei mit Hilfe von Wärmekameras überwacht und Drohnen werden für die Desinfektion der Straßen und Gebäude eingesetzt. Erlaubt ist nur ein kurzer Gang zur Apotheke oder zum Supermarkt innerhalb des eigenen Wohnviertels. Und selbst das geht nur mit einer Art „Erlaubnisbescheinigung“ vom Amt. Wer die nicht vorweisen kann, muss mit drakonischer Bestrafung seitens der Regierung rechnen.

Untergebracht in einem Haus am Meer nahe eines Resort-Orts in Casablanca, beobachte ich jeden Tag von meinem Fenster aus, wie Leute regelmäßig auf ihrem Strandspaziergang von Polizeiwagen eingesammelt werden. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, die Weite des Atlantiks vor der Nase zu haben, aber sie wie eine Landschaftsmalerei nur durch den Fensterrahmen erleben zu dürfen; die Welt nur über den viereckigen Fernsehbildschirm erfahren zu können. Ebenso merkwürdig ist es, so viel Zeit in einer Stadt zu verbringen, ohne die Stadt jemals wirklich gesehen zu haben. Das ist die Assoziation, die mich an das Werk I like America and America likes Me denken lässt. Beuys ließ sich 1974 für seine Performance in der René Block Galerie am JFK-Airport komplett in Filz einwickeln und von einem Ambulanzwagen in die Galerie fahren, weil er nichts von Amerika sehen und von der Außenwelt isoliert sein wollte. Er wollte stattdessen mehrere Tage nur in einem Raum verbringen und mit einem Kojoten namens Little John spielen.

Ich befinde mich an einem Ort, den ich bisher nur „imaginär“ erleben kann, aber dessen Traditionen und Systemen ich trotzdem so intensiv und konsequent ausgesetzt bin. Die Diskrepanz zwischen Außenraum und Innenraum war für mich noch nie so groß wie in diesen letzten Monaten, je mehr Zeit vergeht, desto weiter spreizen sich diese Räume auseinander. Mit extremen Einschränkungen und Isolation konfrontiert zu sein, eröffnet aber auch neue Türen – die Möglichkeit, das Konzept von Zeit und Ort zu reflektieren und zu überdenken. Diese außergewöhnliche Situation sensibilisiert mich für meine eigene Wahrnehmung von Dauer und Ort: Gefühlt anwesend und zugleich abwesend an einem Ort zu sein. Leere und Fülle von Zeit und Raum. Und ich beobachte, wie sich die Dimensionen verändern: Die Minuten, die sich wie Stunden am Anfang der Quarantäne anfühlten. Mittlerweile vergehen Tage wie Stunden. Das geräumige Haus schrumpft dafür von Tag zu Tag.

Im Gegensatz zu meiner gewohnten Arbeitsweise, bei der ich mich für meine konzeptionelle künstlerische Praxis insbesondere von äußeren Einflüssen inspirieren lasse und auf Spurensuche gehe, muss ich mir nun aus meiner Abgeschiedenheit meinen eigenen Kosmos bilden. Seit einigen Wochen setze ich mich auch mit einem für mich ungewöhnlichen Medium auseinander und experimentiere mit Malerei. Dabei spielt Geruch, wie beispielsweise der von marokkanischem Kaffee oder den Gewürzen aus der Küche, eine große Rolle. Er eröffnet ein neues sensorisches Erlebnis, eine neue Welt, die ich mir in mein temporäres „Zuhause“ hole. Geruch ist ein ephemeres Element, das nicht sichtbar ist, aber Räume füllen kann und im aktuellen Kontext Anwesenheit und Abwesenheit, Räumlichkeiten und Zeit hinterfragt.

Nach der ersten Ausdehnung des Lockdowns wurde gestern die Phase um weitere 30 Tage verlängert.

Die Künstlerin Jeewi Lee lebt in Berlin und Seoul und ist am Ruhr Ding: Klima 2021 mit der Installation Mute beteiligt.

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