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Die Kunst in Zeiten der Cholera

Stimmen aus dem Off: Die Kunst in Zeiten der Cholera

von Raul Walch

Ich befinde mich auf der nördlichen Seite des Tals am tiefsten Punkt und pflücke ein paar letzte Trauben von der Rebe am rostigen Zaun. Mein Blick reicht keine zwanzig Meter, bis der Weg endet. Die Mehrzahl der Früchte ist schon leicht braun, ich finde ein paar genießbare Exemplare, stehe dort und schaue mich um. Es ist ein später Herbstnachmittag in einer Sackgasse, ein kleiner Feldweg, die Sonne schon hinter dem Horizont verschwunden. Mich umgeben die Autobahn(-brücke), Bundesstraßen, aktive und verwahrloste Bahntrassen auf mehreren Ebenen und ein paar Kleingärten. Ich bleibe stehen und esse eine Traube nach der nächsten. Am Tor des Gartens lachen mich zwei verblasste Koalas an. Es rauscht. Die Umgebung rauscht. Diese spezifische Akustik des Ortes. Die Sackgasse führt zu einem unzugänglichen Hügel, mehrere zehn Meter hoch und steil. Wild bewachsen, Brombeeren, Efeu und Dornensträucher. Ganz oben überwindet die Brücke den Taleinschnitt und findet zurück zur Ebene. Von hier unten kann ich einzig die von den letzten Sonnenstrahlen orangerot beleuchtete Lärmschutzwand wahrnehmen. Die passierenden Fahrzeuge dahinter vermute ich im konstanten Rauschen. Schon jetzt vermisse ich den Blick in die Weite. Irgendwo aus einem Gartenhäuschen vermute ich ein Gespräch. Entfernungen lassen sich hier im Tal nicht gut schätzen, die Akustik verändert sich, sobald ich im Schatten der Brücke weile. Hallend und dumpf zugleich. Die Autobahn schneidet sich durch die Landschaft, schneidet sich zwischen Lebensräume und unter ihr bleibt es schattig.

In jenes Tal gelange ich durch eine einzige Straße, den Hahnenmühlenweg. Ich muss eine Bahntrasse durchqueren, ein schmaler Durchgang öffnet den Blick auf die dahinterliegende aus fast 60 Wohneinheiten bestehende Siedlung. Drei Straßenzüge, erbaut vor knapp 100 Jahren. Eine ehemalige Zechensiedlung, die aufgrund der Wohnungsnot zu Beginn des 20. Jahrhunderts zuerst nur für zehn Jahre mit neuartigen Baumaterialien hochgezogen wurde. Man nennt die Siedlung ernsthaft Negerdorf, das recherchiere ich im Internet. Einen konkreten Beleg, wie es zu dem Namen kommt, gibt es nicht. Die benachbarte Zeche Tremonia bot schon längst Waschvorrichtungen für die Zechenarbeiter, die entgegen der naheliegenden Vermutung nicht mehr mit kohlefarbigen Gesichtern nach Hause kehrten. Der u-förmige Aufbau einer afrikanischen Stammessiedlung dient als weitere Herleitung.

Entlang der Emscher, einem schmalen Fluss, der im Zuge der Industrialisierung die Abwasser von Mensch und Maschine schlucken musste und allmählich, nachdem die angrenzenden Zechen schlossen, wieder zurück zu seiner natürlichen Form findet, zieht sich der Siedlungsbau in seiner länglichen Form. Wohnhäuser, changierend zwischen sandfarben und verwaschenem gelb, wirken uniform, hinten ein Garten, nebenan der Stellplatz und nach dem letzten Haus der Wohnstraße ein kleiner Sportplatz. Mit dem Auto gelangt man nur durch eine einzige Zufahrt hier her – einige Wagen stehen am Straßenrand, ich treffe niemanden.

Dem in die Siedlung führenden Hauptweg folge ich, rechts von mir befindet sich die Emscher, links Hauseinfahrten, eine wie die andere. Manchmal lacht mir ein Löwe aus falschem Marmor an der Treppe zum Hauseingang entgegen, ein paar Hausnummern weiter bewegt sich ein Windspiel zum sanften Windhauch und lässt mich kurz aufhorchen. Nach wenigen hundert Metern gelange ich an einen kleinen Flussübergang und den angrenzenden Sportplatz, dahinter Brachfläche. Auf der anderen Uferseite hat sich auf dem Hügel ein Kleingartenverein angesiedelt. Nasses Laub verdeckt die individuell gestaltete Bepflanzung der Parzellen, die mittlerweile alle im Schatten der Nachmittagssonne liegen. Ich gehe entlang der Brache bis sich vor mir die Ausläufer der Brücke erheben.

Das Areal wirkt verlassen, verwildert, auf dem Untergrund erahne ich Umrisse ehemaliger Grundstücke. Abgeschlagene, vermoderte Reste eines Zaunes liegen da. Manchmal trete ich auf Baumaterial, Backsteine, Brombeersträucher schlingen sich über einzelne Schutthaufen. Hier endet der Weg – hier kreuzen sich Emscher, Bahntrassen und die Autobahnbrücke. Über mir rauscht es. Hier unten ist es kühl – im Schatten der massiven Brückenkonstruktion legt sich sanft Raureif über die Grashalme am Boden. So muss ich an den Roman Betoninsel (James Graham Ballard, 1974)

denken: Ein Mann kommt wegen zu hoher Geschwindigkeit mit seinem Auto von der Fahrbahn ab und durchbricht die Leitplanke, sodass er schließlich auf einer tieferliegenden Verkehrsinsel landet. Als er zu sich kommt, wird ihm bewusst, dass er sich an einem schon immer vergessenen Ort befindet, der rund herum von Verkehr umspült wird, teilweise zehn Meter erhöht, teilweise abgegrenzt durch Lärmschutzwände, teilweise indirekt sichtbar. Bei den ersten Versuchen, zurück in die Zivilisation zu gelangen, scheitert er an der ihn umgebenden Schnelligkeit der Verkehrsmasse. Immer findet er sich auf der Insel wieder, wo – neben dem Willen zu überleben – zunächst nur seine eigene Geschwindigkeit existiert. Umgeben von Spuren vergangener Unfälle, Autowracks und Natur beginnt er allmählich sich den Ort zu eigen zu machen.

Ich schaue zurück auf die hinter mir liegende Brachfläche. Einige Jahre zuvor standen hier noch kleine bewohnte Behausungen, jede hatte ihren Garten, ihr kleines Feld, eine Hausnummer, erbaut vor Jahrzehnten. Auf rund 30 Parzellen wurden Aufbauten errichtet, die sich offiziell auf einer Grünfläche befanden. Laut Stadt hatten die Bewohner niemals eine Erlaubnis auf dem sogenannten Grabeland zu bauen. Hier lebte man. Vor zwölf Jahren wurde gerichtlich beschlossen, die Bebauung zu entfernen, seit fast fünf Jahren liegt die Fläche nun wieder komplett brach. Was bleibt, sind herrenlose Garten- und Grundstückstore, die den Weg zum Damals weisen.

Die das Tal überquerende, scheinbar unverwüstliche Autobahnbrücke (genannt Schnettkerbrücke), konstruiert kurz nach dem Ersten Weltkrieg, um den Reisenden den Weg durch das Tal zu ersparen, existiert in ihrer heutigen Form erst seit knapp sechs Jahren. Zuvor war sie bei weitem nicht so massiv. Der Neubau misst nun 41,6 Meter Breite, pro Tag passieren 100000 Fahrzeuge. Der gemeine Fahrer nimmt, wegen der hohen Lärmschutzwand links und rechts der Fahrbahn, nicht einmal wahr, dass es sich um eine Brücke handeln könnte. Den Blick nach vorn.

Unter der gewaltigen Konstruktion aus Stahl und Beton führt ein östlich die Siedlung eingrenzender Bahndamm entlang. Weiter hinten verdichtet sich das Dornengewächs, die Emscher verschwindet unter einer tieferliegenden Unterführung, kreuzt die stillgelegten Bahntrassen. Alle Versuche, hier einen Weg zu finden, scheitern. Nur durch einen schmalen unscheinbaren Fußweg auf der gegenüberliegenden Flussseite verbinden sich die beiden Talseiten.

Es scheint, als hätte sich das Leben aus dem Ort zurückgezogen, als hätte der Schatten der Brücke ein Stück Geschichte verschwinden lassen – waren doch die Emscherauen noch vor hundert Jahren ein Ausflugsziel. Eine Bootstour zur Schnettkerbrücke wurde scherzhaft ‚Fahrt nach Amerika‘ genannt. Idyllisch lag die Wohnsiedlung in den Auen nahe dem Fluss, auf der einen Seite die Zeche, auf der anderen Fluss, Felder und Natur. Osten und Westen verbunden durch eine Straße. Kleine Wege entlang der Emscher und der Bahngleise erschlossen das Tal.

Vor fünf Jahren schloss man den Bau der Umgehungsstraße zur Verbindung zweier Autobahnen ab – die Dorstfelder Allee verbindet die über die Schnettkerbrücke fließende A40 mit der A2 und umgibt das Emschertal westlich auf der Höhe mit einer meterhohen Lärmschutzwand. So wurde aus dem weiten Tal eine kleine Insel, inmitten der Schnelligkeit des Alltags, inmitten tausender Menschen, die das Gebiet motorisiert passieren.

Ich unterquere die Brücke auf dem schmalen Weg, ganz dicht führt er mich an der verbauten Betonmasse entlang. Über mir in diesem Moment zig Fahrende. Dahinter der angrenzende nächste Gartenverein, ein Weg führt mich zur nächsten Sackgasse vor der Brücke. Die Gärten wirken winterlich verlassen. Oben das Rauschen des Verkehrs. Links das Gartentor, darauf zwei Koala-Bären auf Holz. Die Weinrebe am Zaun trägt ein paar letzte Früchte. Ich pflücke sie und horche dem Rauschen.

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