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Mut zur Lücke

Mut zur Lücke

von Janne Tüffers

Gähnende Leere auf Spielplätzen, Bahnhofsvorplätzen und Caféterrassen, unbeschriebene Seiten im Terminkalender und geplatzte Urlaubspläne. Das Leben in Zeiten der Corona-Pandemie ist von Lücken, Leere und Freiräumen geprägt. Die Lücke von mindestens 1,50 Meter zu den Mitmenschen ist schon fast zur Normalität geworden. An das klaffende Loch dort, wo Arbeit und finanzielle Sicherheit geglaubt waren, wird man sich hingegen nicht so schnell gewöhnen. Aber ganz besonders zu schaffen machen uns der Mangel von Wissen und Gewissheiten, das Fehlen von Routinen und Selbstverständlichkeiten, sowie die Abwesenheit von konkreten Zukunftsszenarien. Wir hatten geglaubt, wir könnten den Verlauf der Dinge vorhersehen und waren hauptsächlich damit beschäftigt, uns mit ihm zu arrangieren. Und jetzt sind wir mit der Tatsache konfrontiert, dass wir die Zukunft nicht kennen – dass wir vielleicht nicht einmal besonders viel über die Gegenwart wissen.

Neben all den Videochats, den Fitnesskursen via YouTube, der Suche nach neuen und fast vergessenen Hobbies mögen auch die Kulturinstitutionen mit digitalen Ausstellungsansichten und Streamings der Leere entgegenwirken. Aber die Kunst kann noch mehr: Sie kann dazu beitragen, den Freiraum akzeptieren zu lernen; den Mut zur Lücke in unserem Wissen und Verstehen zu stärken.

Unvollständigkeit scheint einer der wenigen beständigen Begleiter durch diese Zeit zu sein. Wie schwer es uns fällt, diese Unvollständigkeit und die damit verbundene Unsicherheit anzunehmen, wird durch den aktuellen Nachrichtenkonsum deutlich. Live-Ticker und Push-Nachrichten verleiten dazu, immer und überall Nachrichten zu konsumieren, um Wissenslücken zu schließen. Eine allumfassende Erklärung der Situation und eine eindeutige Strategie durch die Krise sind dadurch trotzdem nicht in Sicht. Die Frustration darüber zeigt sich, wenn Informationen zum Coronavirus und allem, was im Entferntesten damit in Verbindung gebracht werden kann, ungefiltert aufgesogen werden; wenn verinnerlicht geglaubte Medienkompetenzen und Quellenprüfungen aussetzen, entgegen jeder Vernunft Aussagen mit besonders vielen Ausrufezeichen als besonders sichere Information verstanden werden und soziale und mediale Bubbles umso stärker wirken. Gerade dann erhalten selbsternannte Expert*innen die Chance, die Lücken schnell und einfach mit Unwahrheiten und Schuldzuschreibungen zu füllen.

Gleichzeitig gibt es schier eine Flut an qualifizierten Beiträgen. Selten ist wissenschaftliche Expertise so geschätzt gewesen. Die eine Antwort, die unsere Fragen ein für alle Mal klärt, dürfen wir nur einfach nicht erwarten. Nicht nur, weil diese Krise wahnsinnig komplex und undurchsichtig ist, sondern weil der Anspruch nach der einen Wahrheit, nach der einen Erkenntnis, nach dem einen richtigen Weg, niemals gerechtfertigt ist. Natürlich ist es das Ziel der Wissenschaften Wissen zu schaffen, doch in erster Linie ist Forschung ein Prozess, eine Suche, ein Annähern. Wissenschaften leben vom Scheitern und Korrigieren, sind in ihrem Selbstverständnis reflektiert, kritisch, widersprüchlich und sich ihrer Grenzen bewusst. Neuigkeiten aus der Wissenschaft sind selten die Breaking News, mit denen Politik und Medien gerne arbeiten würden: Wissenschaftliche Untersuchungen beleuchten einzelne Aspekte aus bestimmten Perspektiven – und füllen selten auf einen Schlag die Lücken in unserem Verständnis von der Welt, die uns so zu schaffen machen. So etwas wie die „Wirklichkeit“ kann erst durch die Gesamtheit all dieser Aspekte und Perspektiven, den Vergleich widersprüchlicher Studienergebnisse und den Einbezug verschiedener Disziplinen beschrieben werden. Und auch dann sollten wir „Wirklichkeit“ weiterhin in Anführungszeichen denken, uns von dem Verständnis nach dem Absoluten verabschieden und stattdessen Wissen, Wahrnehmung und Erkenntnis als situativ und veränderlich betrachten und Restunsicherheiten annehmen.

Doch die Krise fordert nicht nur Kenntnis um der Kenntnis willen, sondern als Grundlage, um Entscheidungen zu treffen und Handlungen einzuleiten – und zwar schnell. Die Zeit für den notwendigen Austausch, das Einordnen, Scheitern und Korrigieren fehlt. Dieser Druck stellt die Qualität und die Glaubwürdigkeit der Forschung auf eine harte Probe. Auch Kommunikator*innen, Journalist*innen und Politiker*innen wird damit eine besondere Verantwortung zuteil: zu sagen „Wir wissen es nicht“. Die unvollständige Datenlage muss deutlich werden, Inhalte müssen in ihrer Sprache vereinfacht und trotzdem in ihrer Komplexität deutlich werden. Ergebnisse und Meinungen müssen eingeordnet und Widersprüche erklärt, statt für polarisierte Debatten genutzt werden. Zahlen müssen nicht nur präsentiert, sondern auch erläutert, und Einzelfälle als solche kenntlich gemacht werden. Der Balanceakt zwischen komplexer Argumentation und hitziger Debatte in den Medien ist nicht neu, aber in Krisenzeiten zusätzlich erschwert. Von Politiker*innen zu hören, dass sie nicht sicher wissen können, wovon sie sprechen, dass sich ihre Meinung mit der Datenlage ändern kann und muss, dass sich die gewählte Strategie möglicherweise als falsche Entscheidung herausstellen wird, ist ungewöhnlich aber unbedingt notwendig. Am nächsten kommen wir der „Wahrheit“ nur mit diesen Lücken.

Diese Forderung bringt aber auch mit sich, dass wir diese Lücken akzeptieren müssen. Dass wir von Wissenschaftler*innen keine unumstößlichen Fakten und klaren Handlungsanweisungen erwarten. Dass wir Aufmerksamkeit und Zeit in differenzierten, komplexen und vermeintlich langweiligen Journalismus investieren, der die Sachlage bestmöglich beschreibt, aber eben auch auf ihre Unvollständigkeit hinweist. Dass wir die Unsicherheit, die die „Zwei-Wochen-Politik“ mit sich bringt, aushalten können und Vertrauen haben.

Aber wie schaffen wir diese Akzeptanz? Können wir sie mit Hilfe der Kunst stärken? Vertrautheit mit künstlerischer Praxis bedeutet ein Loslösen vom Vollständigkeitsanspruch, das entscheidenden Einfluss darauf nehmen kann, wie wir die Krise wahrnehmen, sie beschreiben und auf sie reagieren. Den Denkprozess und eine differenzierte Auseinandersetzung gegenüber einem objektiv festzustellenden Ergebnis zu priorisieren, ermöglicht, die Komplexität und vielleicht sogar die Unlösbarkeit einer Thematik anzunehmen. Sie birgt das Potenzial, uns zu zeigen, wie wir Unsicherheiten anerkennen und nicht daran verzweifeln. Als Betrachter*in von Kunst erhoffen wir uns einen Erkenntnisgewinn, ohne absolute Antworten zu erwarten.

Können wir unsere Ansprüche dahingehend auch in anderen Bereichen anpassen? Können wir, indem wir uns diese Haltung ins Bewusstsein rufen, eine Kultur des Zweifelns und Zögerns, Annäherns, Abwägens und neu Ausrichtens etablieren? Wir müssten dafür verinnerlichen einen Schritt zurück zu machen, zu betrachten, uns zu distanzieren, einen Überblick zu verschaffen und eine veränderte Perspektive einzunehmen, wie wir es bei einem Kunstwerk tun würden. Erst wenn wir bewusst eine Lücke bewirken – räumlich, gedanklich, zeitlich – und sie uns zunutze machen, können wir verstehen und beurteilen und uns darüber austauschen, wie sich jede*r Betrachtende das Werk auf eine andere Weise erschließt.

Können wir so, wie wir andere Interpretationen eines Kunstwerks akzeptieren und diskutieren, auch andere politische Meinungen und Standpunkte akzeptieren und diskutieren – ohne dass es darum geht, eine Debatte zu gewinnen? Die Stärken der Kunst, Vielstimmigkeit nicht nur zuzulassen, sondern zu fördern, und Subjektivität nicht nur anzuerkennen, sondern zu betonen, fördert die Ambiguitätstoleranz, die wir insbesondere in Krisenzeiten als Gesellschaft so dringend benötigen: Differenziert und reflektiert mit widersprüchlichen Informationen, neuen Eindrücken, Menschen anderer Meinung und unberechenbaren Situationen umzugehen, statt an Strukturen festzuhalten, die auf einem Schwarz-Weiß-Denken basieren.

Alternative Perspektiven zuzulassen, um diese Kategorisierung zu überwinden, bedeutet allerdings nicht nur die Herangehensweisen anderer zu akzeptieren. Es meint genauso auch selbst mit Hilfe von Vorstellungskraft, Fantasie und Unvoreingenommenheit outside the box zu denken. Können wir also mit künstlerischen Perspektiven, fiktiven Geschichten und Kreativität Wege aus der Krise formulieren, die nicht die Rückkehr zu alten Strukturen bedeuten? Optimismus lernen? Zukunftsvisionen und Fantasieszenarien ermöglichen es uns, eine Sprache für alternative Realitäten zu finden und neue Räume zu schaffen, vielleicht sogar eine neue Normalität. Wir sollten uns das zunutze machen.

Kunst könnte sozusagen als Training verstanden werden. Als Übung dafür, Unsicherheiten auszuhalten, statt in einem seelischen Zustand gefangen zu sein, der uns handlungsunfähig macht; mit Widersprüchen, Ungewissheiten und Unvollständigkeit umzugehen, Freiräume anzunehmen und für uns zu nutzen. Sie kann uns helfen, Offenheit und Dialog, Vielfalt und Verständnis zu kultivieren und somit eine Wertschätzung für Lücken und vorläufiges, Widersprüche und Unsicherheiten zu schaffen. Das wirkt gerade jetzt aber keinesfalls ausschließlich in Zeiten der Corona-Krise wichtig. Diese Krise ist nicht der Auslöser von, sondern die plötzliche Konfrontation mit einer Realität, die lautet: Wir wissen es nicht. Unsere Erklärungen dieser Welt sind lückenhaft, unser Verstehen hat Grenzen. Kunst kann uns dazu ermutigen, alternative Szenarien zu denken, wenn wir merken: Wir können die Zukunft nicht mit Sicherheit planen. Sie war immer ungewiss, bislang war sie das nur weniger offensichtlich.

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