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Chaos Welt c Heinricht Holtgreve

Chaos Welt

von Dorothee Röseberg

Widerstrebende Entwicklungen von Öffnung und Schließung prägen unsere gegenwärtigen Erfahrungen: Angesichts des unübersehbaren Klimawandels nehmen wir uns alle immer bewusster als Bewohner*innen dieser Erde wahr, wir reisen in ferne Länder und sind digital vernetzt. Gleichzeitig verstehen wir immer häufiger unsere Nachbar*innen nicht; sie sprechen fremde Sprachen und ihre Lebensgewohnheiten sind uns nicht vertraut. Arbeit finden wir immer seltener in unserer angestammten Region. Mobilität und Anpassung an neue Orte sind Gebote der Gegenwart. Nationales verliert und gewinnt an Einfluss. Grenzen fallen und werden neu errichtet. Territorien öffnen und schließen sich. Wie orientieren wir uns in dieser Chaos-Welt? Womit und wie identifizieren wir uns? Welche Alternativen sind für uns erkennbar, wenn wir uns bislang mit unserem Heimat- und Lebensort identifiziert haben und sich doch beides wandelt? Deterritorialisierung und Reterritorialisierung gehen Hand in Hand. Muss man ortsgebundene Identitäten verwerfen? Müssen wir anders denken lernen? Das Begriffskonzept Globalisierung kann auf diese Fragen nur unzureichende Antworten geben. Denn dahinter steht eine allzu einseitige Sicht auf die Welt als Markt und auf die Beziehungen von Menschen als Produzenten und Verbraucher. Kurz: auf ökonomische Beziehungen.

Berühmt wurde der amerikanische Politikwissenschaftler und -berater Samuel Huntington mit der griffigen These vom „Clash of Civilization“. In seinem gleichnamigen Buch, das den Zusatz trägt: and the Remaking of World Order (1996), diagnostiziert er einen unausweichlichen Zusammenprall von (religiösen bzw. nationalen) Kulturen, der sich als Kampf von Gewinnern und Verlierern darstellt. In dieser simplifizierenden Sicht auf Kulturen droht dem Westen der Niedergang; der Islam gilt als die größte Bedrohung. Kulturen werden in dieser essentialistischen Auffassung nicht im Wandel durch Kontakt aufgefasst. Das Andere, Fremde steht für die Bedrohung einer territorial bestimmten Identität. Ängste vor dem Fremden prägen generell nicht nur das Denken rechtsextremer Politikergruppen, sondern sind eine der vielen Begleiterscheinungen der Migrationsbewegungen. Überformung eigener Identitäten durch das Fremde und Identitätsverluste heißen die Diagnosen, die Gefühle des Unwohlseins in einer Welt, die in Unordnung geraten ist, bündeln. Eine Stimme ganz anderer Art ist indes bei Europäern bislang fast ungehört geblieben. Sie kommt aus der Karibik. Nur wenige Experten diskutieren die dort geführten kulturtheoretischen Debatten. (1)

Als einer ihrer markantesten Autoren ist dabei Édouard Glissant aufgetreten. Sein Werk ist, über seinen Tod im Jahr 2010 hinaus, weltweit Anregung zum Nachdenken geworden. Glissant (*1928, Sainte-Marie, Martinique) ist ein Nachfahre afrikanischer Sklaven, die mit Brutalität aus ihrem ursprünglichen Leben und Erfahrungsraum auf einem langen Weg, im Laderaum der Schiffe eingepfercht, verschleppt und auf den Plantagen der Insel Martinique zur Arbeit für die Kolonialherrschaft gezwungen worden waren. Glissants Denken ist von diesen Erfahrungen der jähen, gewaltsamen Entwurzelung seiner Vorfahren, dem Verlust kulturellen Wissens und kultureller Praktiken geprägt. Solcherart Verluste, die Erinnerung in Form von Spuren und das Leben auf einem Archipel haben sich tief in das Denken und die Ausdrucksformen Glissants eingeschrieben. Territorium und Identitätsvorstellungen gehen insofern bei Glissant zunächst eine starke Verbindung ein. Er sieht die Inselwelt Martiniques als einen Modellfall für Prozesse, die heute überall auf der Welt vor sich gehen. Partikularität und Universalität sind daher aufs Engste verbunden. Glissants Denken ist von postmodernen Theoretikern, insbesondere von französischen Philosophen, geprägt. (2)

Doch sollten die Begriffe, mit denen sich Glissant uns mitteilt, nicht vorschnell auf Vorbilder zurückgeführt werden, denn er hat sie modifiziert und an seine Art der Wahrnehmung, Vorstellungen und an seine Ausdrucksweise angepasst. (3) Glissant verwendet die Begriffe meist metaphorisch, denn für ihn sind Poesie, Philosophie und Poetik gleichberechtigte Ausdrucksformen, deren Grenzen er weitgehend aufhebt. Seine Denkfiguren entziehen sich auch deshalb einer systematischen Erörterung. Ein Ausgangspunkt für die Thematik Identität und Territorium ist seine Typologie von Kulturen, die sich in einer Welt beschleunigter Globalisierung begegnen. Aufgrund ihrer unterschiedlichen Beschaffenheiten verhalten sie sich in der Begegnung verschieden. Atavistische Kulturen sind alteingesessene Kulturen, die ihre Identitäten durch die Erzählung von Gründungsmythen konstruieren, dabei ihre Existenz durch Genese und Abstammung bestimmen und sich territorial legitimieren, um ihre Besitzansprüche zu rechtfertigen. In Schulen, durch Denkmäler, in den Geschichtsbüchern, durch den Kanon von ‚unseren Klassikern‘, durch Volkspoesie werden solche Mythen verbreitet und angeeignet. Atavistische (4) Kulturen bestimmen dabei ihre Identität über Ausschluss und Ausgrenzung von anderen.

Der Andere wird bei Bedarf zum Feind stilisiert, um eigene Identität und Machtinteressen zu rechtfertigen. Der Andere ist meist nicht einfach andersartig, sondern wird abgewertet, um Eigenes als höherwertig erscheinen zu lassen. Die Sakralisierung von Helden gehört ebenso dazu wie eine Sakralisierung des Territoriums. Die Rückschau auf die letzten beiden Jahrhunderte belegt diesen Charakter von Identitätsbildungen bei den nationalen Kulturen Europas. Die mit territorialen Besitzansprüchen verbundenen Kriege wurden im Namen von Zivilisation oder/und Kultur geführt. Das Blut der Opfer dieser Kriege transformierte den Boden, auf dem gekämpft worden war, zur Heiligen Erde. (5)

Diese Form der Identitätsbildungen gehört keineswegs der Vergangenheit an, wie sich nach dem Zerfall Jugoslawiens erwies. Neben Pegida, AfD und Leitkulturdiskussion wirkten in Deutschland bis vor einigen Jahren Gesetze, die das historisch entstandene ethnische Abstammungsverständnis des deutschen Volkes allein durch das jus sanguinis (Abstammungsrecht) bei der Vergabe der deutschen Staatsbürgerschaft juristisch flankierten. Auch nach der Reform dieser Gesetze wirken in Deutschland nachhaltige Vektoren für den Erhalt einer atavistischen Kultur. Wer gehört zu uns und wer nicht, wie gefährlich sind die Anderen für unsere Identität. Dies sind Fragen, die atavistischen Kulturen eigen sind. Ihre Beantwortung führt unter den Bedingungen von Migration und Globalisierung zu Krisenerscheinungen. Ebensolche Fragen und ein daraus abgeleiteter Umgang mit Differenzerfahrungen liegen nicht im Wesen komplexer Kulturen, wie Glissant Mischkulturen nennt. Denn diese definieren sich nicht über Ursprung und Ausschluss. Glissant erzählt immer wieder, wie sich Martinique als Beispiel einer solchen Mischkultur allein durch Kulturkontakt und diverse kulturelle Mischungsprozesse konstituiert(e). Identität stellt sich dabei durch das Verhältnis zum Anderen her. Solche Kulturen können sich weder über eine Wurzel noch über eine Herkunft identifizieren, denn diese sind im Strom der gewaltsamen Geschichte der Kolonialzeit vernichtet worden. Es gibt Spuren der Erinnerung, mit denen die nachfolgenden Generationen in produktiver Weise umgehen und dabei Neues erzeugen. Das Bild, das Glissant für die beiden, sich unterscheidenden Kulturtypen findet, hat er von den postmodernen Denkern Deleuze und Guattari übernommen. Die atavistischen Kulturen mit ihren Ursprungsmythen und Ausschlussprinzipien werden mit dem Bild des Baumes, der von der Wurzel her, über den Baumstamm, hin zur Krone hierarchisch strukturiert ist, versinnbildlicht. Anders als die französischen Vordenker bezieht Glissant diese Denkfigur auf das Phänomen der Identität. Komplexe Kulturen sind eher im Bild der Rhizome vorstellbar, d.h. in einem weit, horizontal verzweigten Geflecht, deren Wurzeln sich in der Begegnung vernetzen. Hierarchien sind hier nicht zu finden, und Identität lässt sich kaum entflechten.

Angesicht solcher Vorstellungen mag man erahnen, inwiefern Glissant dem Zusammenprall der Kulturen in der Chaos-Welt etwas Positives abgewinnen kann: Die Furcht vor Überformung einer Ursprungsidentität ist einem Vertreter komplexer Kulturen fremd. „Die Globalität (6) ist das nie gekannte Abenteuer, das wir in unserer Zeit alle leben dürfen, in einer Welt, die sich erstmals wirklich auf unvermittelte und unmittelbare, bahnbrechende Weise selbst wahrnimmt als vielfältig und eins und aufs engste verknüpft.“ (7) . Glissant entwickelt aus diesem Befund eine Theorie der Relationen. Nicht Territorien sind dabei bestimmend für die Identität, sondern die Beziehungen, die Menschen unter- und miteinander eingehen. In diesem Sinne kann man in Glissants Denken jene Spuren der Deterritorialisierung erkennen, die unsere persönlichen Erfahrungen belegen. Glissant als Stimme derer, die vom westeuropäischen Diskurs ausgeschlossen sind, hat stets den Blick der Kolonialisierten und ihrer Nachfahren auf Europa thematisiert. Er diagnostiziert ein Brüchig-Werden des nationalstaatlich ausgerichteten Europas des 19. und 20. Jahrhunderts. Auch wenn Nationen in Politik und Verwaltung noch lebendig seien, so sieht Glissant die Lebensrealität der Europäer eher durch und in Regionen verwirklicht, die miteinander in Beziehungen treten. Das meint Glissant, wenn er davon spricht, dass sich Europa archipelisiert.

Aber heißt eine solche Inselbildung, dass sich dort automatisch komplexe Identitätsbildungen vollziehen oder neigen auch solche Inseln in Europa dazu, sich territorial zu identifizieren? Glissant hat das Baskenland als negatives Beispiel angeführt, da sich diese Autonomiebestrebungen mit Identitätskonstruktionen verbinden, die von Abstammung, Reinheit der Rasse und der Sprache erzählen, um schließlich die Anderen mit Gewalt auszuschließen.

Deshalb lautet die Botschaft und Aufforderung Glissants, dass jeder die Art und Weise ändern muss, wie er auf dieser Welt etwas wahrnimmt, wie er lebt und wie er reagiert. Das Denken in Spuren, das induktiv und intuitiv ist, sollte, so Glissant, das systematische Denken ersetzen. Denn es gibt Bedingungen, damit sich das Positive des Kulturkontaktes durchsetzen kann: Das Chaos ist nur schön, „wenn man all seine Bestandteile als gleich notwendig betrachtet.“ (8) Spätestens an dieser Stelle kommen die politischen Implikationen dieser Kulturtheorie zum Tragen. Glissant fordert in einem Interview von 1998 explizit dazu auf, dass sich in Europa ein neues Denken entwickeln muss. (9) Denn er vertraut der Wirtschaft nicht, die tödlichen Hierarchien der globalen Welt abzubauen. Er setzt vielmehr auf die Macht des Denkens. Dabei ist und wird eine zentrale Frage sein, ob und wie es gelingt, Kulturkontakte als gelebte Beziehungen zwischen Menschen zu gestalten, bei denen immer neue Beziehungsidentitäten entstehen können. Glissant insistiert darauf, dass Migration, Ortswechsel und Kulturkontakt nicht den Verlust von Identität bedeuten, sondern andere Formen von Identität erzeugen können. Die Karibik kann als Modell für eine Identität gesehen werden, die sich nicht in erster Linie territorial versteht, sondern sich immer nur dann konstituiert, „wenn sie mit ihrer Umgebung Mischungsverhältnisse eingeht.“ (10) Chaos, jene Mischung, in der sich das Welt-Ganze heute verwirklicht (11), ist nicht einfach Unordnung, sondern schließt – so Glissant – notgedrungen die Unvorhersehbarkeit ein. „Chaos ist in der Welt, weil das Unvorhersehbare in der Welt ist.“ (12) Für die europäischen Denktraditionen, die ganz weitgehend auf Rationalismus, Verstehen und Kontrolle ruhen, werden dadurch Herausforderungen formuliert, die fremd erscheinen und nicht ohne Widerspruch geblieben sind. Glissants Kulturanalysen des Weltzustandes sind unseren gegenwärtigen Erfahrungen jedoch viel zu nahe, als dass wir sie unreflektiert, einfach in die ferne Region zurückweisen sollten. Auch deutsche Geschichte lässt sich historisch und gegenwärtig über Kulturkontakte erzählen und verstehen. Identitäten generieren sich ohnehin nur plural.

Dorothee Röseberg ist Professorin für Kulturwissenschaft am Institut für Romanistik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und Vizepräsidentin der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin.

(1) Gesine Müller, Natascha Ückmann (Hg.): Kreolisierung revisited. Debatten um ein weltweites Kulturkonzept. transcript, Bielefeld 2013. Ralph Ludwig, Dorothee Röseberg (Hg.): Tout-Monde: Interkulturalität, Hybridisierung, Kreolisierung. Peter Lang Verlag F. a. M. 2010.
Andrea Schwieger Hiepko. Rhythm ’n’ Creole. Kulturverlag Kadmos Berlin 2009

(2) Glissant hat in Frankreich studiert, in New York gelehrt und die Welt bereist.

(3) Schwieger Hiepko, S.79-81 3

(4) atavus (lat.) Ahnherr, Urahne

(5) So hat der französische Staatspräsident Emmanuel Macron erst kürzlich, am 11. 11.2018, die Schlachtfelder des 1. Weltkrieges als terre sainte bezeichnet.

(6) Glissant wählt für die „All Welt“ nicht den Begriff der Globalisierung, sondern den der Globalität, um den Primat der Ökonomie zu unterlaufen.

(7) Glissant, 2005, Interview für die Zeitschrift Les périphériques vous parlent . Zit. Nach Beate Till. In: Édouard Glissant. Kultur und Identität. Wunderhorn Heidelberg, S. 78 5

(8) ebenda

(9) In deutscher Sprache findet man das Interview in Lettre International 42 (Oktober 1998) S. 88-91 (gekürzt), in französischer Sprache in: Schwieger Hiepko, S. 219-230. 6

(10) Schwieger Hiepko S. 81

(11) Glissant. Kultur und Identität, S. 56

(12) Ebenda S. 57

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